Meine Freunde
sind nach Bayern gezogen,
ich nach Sachsen

Intervention vom 3.-11.5.2019
in der ehemaligen „Fleischerei Merkel“ in Zeitz

In Zusammenarbeit
mit Open Space Zeitz

Einführung von Sophia Pietryga

„Und der Zukunft zugewandt“

Eine künstlerische Intervention
über die Gegenwart

Sebastian Jung geht mit seiner Intervention „Meine Freunde sind nach Bayern gezogen, ich nach Sachsen“ bewusst in die ostdeutsche Provinz, ins sachsen-anhaltinische Zeitz. In erster Linie ist Zeitz bekannt dafür, dass ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner die AfD wählt; eine Stadt, die der Deutschlandfunk vor zwei Jahren als Geister- und Trümmerstadt beschrieben hat. Demografische Herausforderungen gehen hier Hand in Hand mit demokratischen Herausforderungen. Ganz praktisch sichtbar werden die Auswirkungen der letzten 30 Nachwendejahre im Stadtbild: Leerstand ist hier nicht hippes Ausstellungskonzept outside the white cube, sondern die Lebensrealität. Sebastian Jung wählt als Ausstellungsort die ehemalige Fleischerei Merkel. Das Ladenlokal, direkt gegenüber eines neu erbauten Supermarktes, ist eines von vielen Gebäuden und Einzelhandelsbetrieben, das der schwierigen wirtschaftlichen Lage der letzten drei Jahrzehnte nicht standhalten konnte. Jung bezieht sich auf diese vorgefundenen Zeugnisse gesellschaftlicher Prozesse, indem er persönliche Erfahrungen als Grundlage der künstlerischen Auseinandersetzung nimmt. „Meine Freunde sind nach Bayern gezogen, ich nach Sachsen“ geht indirekt den demografischen Wandel in den ländlichen Regionen an – vor allem in Ostdeutschland. Jung spekuliert über das Wegziehen aus der Perspektive des Weggezogenen. Er selbst ist vor einem Jahr von Jena nach Leipzig gezogen, was sich nicht direkt als Landflucht bezeichnen lässt, die Größe der Stadt hat sich aber immerhin verfünffacht. Gleichzeitig wird durch die Gegenüberstellung von Ost und West im Ausstellungstitel implizit die Vermögensverteilung innerhalb der Bundesrepublik thematisiert: Bayern steht als Zweitplatzierter mit an der Spitze der reichsten Bundesländer, die neuen Bundesländer nehmen geeint die hinteren Ränge ein. Die Räume der ehemaligen Fleischerei Merkel bilden die Bühne, auf der diese gesellschaftliche Vielschichtigkeit verhandelt wird. Es entsteht eine Versuchsanordnung über die menschlichen Auswirkungen des Strukturwandels, über Verlust und Trostlosigkeit.

Die Regale und Kühlfächer im Verkaufsraum der Fleischerei sind leer, alles ist hygienisch-sauber weiß gefliest, nicht ganz modern, aber das muss sie auch nicht mehr sein. Das große Logo klebt noch im Eingangsbereich, auf der Theke steht ein Blumengesteck, vertrocknet, es wurde scheinbar mit dem letzten Abschließen des Geschäfts einfach stehen gelassen. Die Tischdecke darunter ist schwarz-rot-gelb, das verwundert nicht weiter, scheint ein prägnantes Einrichtungsmerkmal der Region zu sein. Doch ein großes, kreisrundes Loch ist in die Mitte der Decke geschnitten und ein paar Zentimeter darunter findet sich das passende Gegenstück: das rund ausgeschnittene Emblem der DDR. Sebastian Jung verweist hier auf eine typische Praxis der Nachwendezeit: Nach der Wiedervereinigung wurde aus praktischen Gründen vor allem an öffentlichen Gebäuden die Mitte der DDR-Fahne ausgeschnitten oder übermalt. Der Verlust, der dabei entstand, auch im übertragenen Sinne, prägt die neuen Bundesländer bis heute. Sebastian Jung füllt diese Leerstelle der Verlustgeschichte ironisch-symbolisch – mit einer Fleischkäsesemmel. Das Motiv zieht sich in Variationen durch die gesamte Ausstellung, wurde in der künstlerischen Recherche Jungs als beliebte Zwischenmahlzeit identifiziert, die ihren Weg von Bayern in die gesamtdeutschen Einkaufzentren gefunden hat. Das Bild der Fleischkäsesemmel, das sich dutzendfach in den Arbeiten wiederfindet, ist immer das Gleiche: Eine überproportioniert dicke Scheibe Fleisch zwischen zwei hellen Brötchenhälften. Soßen oder andere Beläge sind nicht erkennbar,

die minimalistische Zusammenstellung dieser Zwei-Komponenten-Mahlzeit ist Werbebildern aus Fleischereien oder Supermärkten entlehnt, wobei die gleichmäßige Drittelung Brötchen-Fleischkäse-Brötchen im Kontext der anderen Arbeiten formal an den Aufbau der Deutschlandflagge erinnert.

Die Ausstellung erstreckt sich vom Verkaufsraum in die Kühl- und Lagerräume der Fleischerei. Die Arbeiten im ersten Raum erinnern noch weitestgehend an Werbegrafiken, die es in früheren Zeiten vielleicht auch in diesen Räumen gab. Es sind Collagen, die auf den zweiten Blick drastisch ihre Werbeästhetik verlieren: Die schwarz, rot und gelb gehaltenen Bilder entlarven sich als sich übergebende Figuren, vor einem Muster aus Sternen und Fleischkäsebrötchen. Das Fleischkäsebrötchen bildet auch hier den Übergang von Genuss und Ekel innerhalb der bekannten ästhetischen Form.

Im dahinterliegenden Raum hängen Zeichnungen von brötchenessenden Menschen, treffend beobachtete Prototypen eines Einkaufszentrums, während der künstlerischen Recherche Sebastian Jungs in situ gezeichnet. In einem Rahmen wird eine Zeichnung jeweils mit einem Foto der immer gleichen Fleischkäsesemmel zueinander gestellt. Als installatives Moment findet sich vor den Zeichnungen eine zensierte DDR-Fahne, als Stange dient ein Wischmob von Vileda, daneben steht der passende Putzeimer. Mit den Putzsachen wird ein neues Element in die Ausstellung eingeführt, das sich, wie die anderen Ausstellungselemente, gut in unsere Sehgewohnheiten eingliedert und wiederum auf den Ort referiert.

Der nächste Ausstellungsraum ist der Kühlraum der Fleischerei. Sebastian Jung setzt sich hier noch einmal explizit mit den Gefühlen des Zurücklassens und Verlusts auseinander. Fotos mit Selfies von Freundinnen und Freunden des Künstlers sind Prosafragmenten zugeordnet, die sich selbstreflexiv mit Ängsten und Problemen, aber auch mit neugewonnenen Möglichkeiten eines neuen Lebensabschnitts auseinandersetzen.
Der die Ausstellung abschließende Raum eint inhaltlich und formal alle vorhergegangenen Elemente: Auf dem Fußboden liegt eine puppenartige Figur, die aus einem Vorhangstoff gearbeitet ist, den Jung in der Fleischerei vorgefunden hat. Das Negativ, also der restliche Stoff, aus dem die Silhouette der Figur geschnitten wurde, hängt an der Wand, wieder in Referenz zu den zensierten DDR-Flaggen in den vorherigen Räumen. Der Vorhang bezeugt die wirtschaftlich erfolgreicheren Zeiten der Fleischerei, ist mit einem abstrakt-geometrischen Muster und den Farbverläufen von braun zu blau ein Designrelikt der 90er Jahre. Auf der gegenüberliegenden Wand hängt eine Postkarte, adressiert an die Fleischerei, mit Urlaubsgrüßen aus dem Erlebnishotel. Die Figur liegt dazwischen auf dem Boden, richtet aber ihren Oberkörper und Kopf so auf, dass sie sich, die Karte im Rücken, dem Stoff aus dem sie geschnitten wurde entgegenstreckt und so zugleich in ihre Vergangenheit und Zukunft zu blicken scheint.

In seinen aktuellen Arbeiten und Interventionen agiert Sebastian Jung bewusst außerhalb von klassischen oder etablierten Ausstellungsräumen. Er eignet sich vorgefundene Räume an, meist leerstehende Gebäude, deren Vergangenheit in seine künstlerische Praxis einbezogen wird. In die Auseinandersetzung mit ortsspezifischen Gegeben- und Besonderheiten fließen persönliche Erfahrungen ein: Vorgefundene Stimmungen und Zufälligkeiten werden so mit künstlerischen Mitteln verdichtet und sichtbar gemacht. Die Bezugnahme zur eigenen, persönlichen Geschichte macht die Auseinandersetzung mit der abstrakteren, allgemeinen Vergangenheit nachvollziehbar und schafft es dadurch, Gegenwärtiges begreifbar zu machen.

Sophia Pietryga studierte Kunstgeschichte und ist Autorin und Kuratorin in Potsdam und Leipzig. Derzeit arbeitet sie an diversen freien Projekten und im Kunstraum Potsdam.