Einführung von Ella Falldorf

Von Lost Places und uneingelösten Glücksversprechen

 

Hetzjagden auf Ausländer; Landflucht; Armut; Verfall; Tristesse; Nazis und Gewalt. Beobachtungen der aktuellen Verhältnisse in Ostdeutschland bilden den Ausgangspunkt für Sebastian Jungs Kunst. Im Herzen dieser Beobachtungen geht es um die Enttäuschung über das kapitalistische Glücksversprechen, das nach der Wende uneingelöst bleiben musste.
 
Als Surrogate öffneten sogenannte (Nicht-)Orte – Freizeitparks und Shopping-Malls – ihre Türen. Sie erzählen von genormter Ekstase und Spaß im Kapitalismus. Die von Horkheimer und Adorno zur Charakterisierung der Kulturindustrie herangezogene Metapher „Fun ist ein Stahlbad“ nimmt hier Gestalt an.
 
In diesem Sinne bildet die Serie von Zeichnungen, die Sebastian Jung im Freizeitpark Belantis in Leipzig anfertigte, den Ausgangspunkt für das Projekt Ost Deutsch Now. Zu diesem Projekt gehören außerdem drei Interventionen, die der Künstler in den letzten zwei Jahren an unterschiedlichen Orten im Osten Deutschlands durchführte. Der vorliegende Katalog, der zur Ausstellung in der Imaginata Jena in Kooperation mit dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) entstanden ist, fasst all diese Arbeiten zusammen, ergänzt um einführende Texte, einen Think-Tank und ein Künstlergespräch. Jungs Arbeiten nähern sich häufig von verschiedenen Seiten einem Thema, bis sie in einem zusammengehörigen Projekt münden, so auch hier. Der 1987 geborene und in Jena Winzerla aufgewachsene Künstler beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den neuen Bundesländern als Herd rechter Bewegungen. Doch während er sich in seinen bisherigen Arbeiten den Menschen sowie den Ursprüngen ihres rechten Gedankenguts auf eine fast sozialpsychologische Art annäherte, vollzieht sich in Ost Deutsch Now eine Bewegung, die die Orte mehr in den Fokus rückt.
 
Die ausgewählten Räume sind von einer vielschichtigen Zeitlichkeit geprägt, was zeigt, dass es sich nicht um die Verarbeitung eines vermeintlich plötzlichen Rechtsrucks der letzten Jahre handelt. Vielmehr geht es darum, lange bestehende Tendenzen sichtbar zu machen. Als Teil seiner künstlerischen Geste ist Sebastian Jung in diese Orte und ihre Vergangenheit eingedrungen, hat Tage und Nächte in ihnen verbracht und sie sich sowohl kognitiv als auch emotional angeeignet, um sie schließlich künstlerisch zu besetzen. Die ortsspezifischen Installationen sind nicht nur Kommentare, sondern erwirken, wie im Begriff der Intervention bereits angelegt, eine Veränderung durch ihre Einschreibung in den Raum. So ist es das Anliegen des Projekts, außerhalb etablierter Institutionen an prekären und anti-ästhetischen Lokalitäten politische Kulturarbeit zu etablieren. Durch den Transfer dieser Projekte in eine Ausstellung in der Imaginata im November 2019 und die Publikation dieses Katalogs werden jene Orte an die Welt von Kunst und Kultur rückgekoppelt.
 
Indem er seine künstlerischen Arbeiten in einem Think-Tank durch interdisziplinäre Perspektiven erweitert, kreiert Jung schon hier einen dezentralen, sozialen Raum des Austauschs. Michael Arzt, Janine Dieckmann, Osaren Igbinoba, Nhi Le, Axel Salheiser, Sylka Scholz, Jörg Sundermeier, Christoph Tannert und Matthias Quent diskutieren, was nach der Wende 1989 in Ostdeutschland schiefgelaufen ist.
 
Sebastian Jung sucht nach Nicht-Orten: Flächen wie das Einkaufszentrum neue mitte in Jena, die ein kapitalistisches Glücksversprechen formulieren, es aber nicht einzulösen vermögen. Das asiatische Restaurant La Dolce Vita, in dem Jung im Mai 2018 die von Will Lammert gestaltete Marxbüste platzierte, ist selbst ein Ort voller Widersprüche. Dieser Raum ohne Fenster fasziniert durch einen skurrilen Mix aus überbordendem griechisch anmutendem Kitsch. Mit goldenen Putten dekoriert und dem pompösen Namen könnte er kaum einen größeren Kontrast zu der Ehrfurcht erweckenden schlichten Steinbüste bilden. Dies führte Verena Krieger in einer Besprechung aus, die 2018 im Rahmen des Symposiums „Von Gespenstern und geteilten Himmeln – Ideen einer gerechten Gesellschaft nach Marx“ erschien. Ihr Text wird hier nochmals abgedruckt und tritt, wie die Installation selbst, in Dialog mit den anderen Projekten.
 
Während die Marx-Büste in der neuen mitte in das Herz Jenas gerückt wurde, verschlägt uns die nächste Intervention ins abseits gelegene süd-östliche Sachsen-Anhalt – nach Zeitz. Hier verwandelte Jung im April 2019 die ehemalige Fleischerei Merkel in einen Tatort. Der heute verlassene Ort wurde seiner ursprünglichen Funktion beraubt. Neben der leeren Auslagentheke erinnern nur noch die weißen Kacheln und eine alte Postkarte an seine Geschichte. Eine Deutschlandflagge mit kreisrundem Loch, ein Relikt der friedlichen Revolution, verweist auf die Hoffnungen, die auch an diesem Ort einmal präsent waren. Symbolisch hat Sebastian Jung das Loch wieder gestopft, mit einer Fleischkäsesemmel. Wie im Text von Sophia Pietryga erläutert, verweisen die Zeichnungen von Fleischkäse verschlingenden Menschen im Einkaufszentrum Globus darauf, wo die Kundschaft der verlassenen kleinen Stadt sich heute befindet. Mit ironischem Unterton thematisiert Jung bereits im Titel die demografische Entwicklung des Ortes: „Meine Freunde sind nach Bayern gezogen, ich nach Sachsen“.
 
Und dort führt Jungs Reise auch tatsächlich hin, nach Sachsen. In jene Stadt, die vor einem Jahr durch Hetzjagden von Nazis deutschlandweit in die Schlagzeilen geriet: Chemnitz. Doch es geht auch hier nicht mehr um die „besorgten Bürger“ und ihren Hass auf „Ausländer“ und Andersdenkende. Während die ersten beiden Interventionen an halböffentlichen Orten des Konsums stattfanden, eignet Jung sich in Chemnitz ein verlassenes Wohnhaus an. Durch das Eindringen in die verwaisten Wohnungen konfrontiert er sich und die Besucher*innen mit einer unangenehmen Nähe zu den ehemaligen Bewohner*innen – es ist ein Eindringen in ihre Privatsphäre. Amorphe einfarbige Stoffpuppen nehmen die Plätze der namenlosen Bewohner*innen ein. Sie sitzen, wie zu einem Familienfoto arrangiert, auf den Treppen, schieben sich durch halbgeöffnete Türen, eingefroren in der Bewegung. An den Wänden hängen die Zeichnungen aus dem Freizeitpark Belantis, die, ebenfalls wie Familienfotos, auf vergangenes (oder nie da gewesenes) Glück verweisen. Diese zu Beginn eingeführten Zeichnungen werden hier wieder aufgegriffen und schließen so eine Klammer um die drei Projekte. Wie der Titel „Früher hat der Pornos gemacht, heute sammelt er Flaschen“ erzählt auch das Haus eine Geschichte von geplatzten Träumen.
 
Auf die Frage „Was ist Ost Deutsch Now?“ gibt Jung, analog zur Struktur des Think-Tanks, keine monokausale Antwort. Stattdessen beobachtet er auf empathische und humoristische Weise die Resultate des unerfüllten Glücksversprechens. Die dabei zum Vorschein tretende groteske Spannung zwischen beklemmender Einsamkeit, Konsum und Spaß wird formal verdichtet und überträgt sich auf die Betrachter*innen, denen das Lachen im Halse steckenbleibt. Denn trotz Komik und Witz in der Formensprache fordern all diese Interventionen eine Auseinandersetzung mit Gewalt, Hass und Einsamkeit in Ostdeutschland.
 
 

Ella Falldorf studierte Kunstgeschichte und Soziologie an der Universität Jena.
Zur Zeit schließt sie den Masterstudiengang Holocaust Studies an der Universität Haifa
mit einer Arbeit über Kunst im Konzentrationslager Buchenwald ab.