Gespräch zwischen Ella Falldorf und Sebastian Jung zur Intervention „Früher hat er Pornos gemacht, heute sammelt er Flaschen“

Nach der Intervention in Zeitz hat die Galerie Hinten Dich angefragt, ob Du eine Ausstellung bei ihnen in Chemnitz machen möchtest. Anstatt einen cleanen Galerieraum zu bespielen, habt Ihr Euch jedoch darauf geeinigt, eine Intervention in dem verlassenen Wohnhaus in der Zietenstraße 19 zu machen. Was ist das Besondere an diesem Haus? Was hat Dich an den Räumen fasziniert?

Mich interessiert es, an Orte zu gehen, die gesellschaftliche Realitäten abbilden. Ich zeichne beispielsweise in Einkaufszentren, auf der Erotikmesse oder auf der Hunde- und Katzenschau. In meinen Interventionen suche ich nach Wegen, diese Recherchen an ähnliche Ort zurückzuspiegeln. Mir geht es darum, Kunst immer im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten.

In dem vorgefundenen Haus wiederum spiegelt sich die gesellschaftliche Realität zurück ins Private. Palmen- und Disney-Tapeten strahlen ihre Glücksverheißungen in den Alltag der ehemaligen Bewohner*innen. Spannend ist, dass dieses Haus direkt nach der Wende so hergerichtet worden sein muss und es dann Mitte der 1990er schon wieder verlassen wurde. Zumindest an diesem Ort konnte das Glücksversprechen nur für kurze Zeit mit Leben gefüllt werden.

An den mit Tapeten aus den 90er Jahren dekorierten Wänden der sonst leeren Räume hängen Zeichnungen aus dem Freizeitpark Belantis. Wie sind diese Bilder entstanden? Und warum hast Du gerade diese für die Intervention in Chemnitz gewählt – und nicht etwa die Zeichnungen von der Nazi-Demo in Chemnitz im Herbst 2018?

Ziel war es, unter die Oberfläche der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen zu gelangen. Meine Erlebnisse auf der Nazi-Demo spielen in diesem Haus eine entscheidende Rolle, aber aktuell interessiert mich eher der gesellschaftliche Rahmen, der sie hervorbringt. Deshalb habe ich mir eine Gold-Karte für den Vergnügungspark Belantis gekauft und dort diesen Sommer sehr oft gezeichnet. Spannend an diesem Ort ist, dass zum einen nicht alle Menschen dort ständig glücklich sind, vielmehr scheint es oft Streit zu geben. Zudem denke ich, dass wir Spaß in unserer Gesellschaft brauchen, weil wir eigentlich eine scheiß Angst haben. Und wenn dieses Glücksversprechen dann nicht eingehalten werden kann, kommt schnell Frust auf. Insofern sehe ich Parallelen zu den gewalttätigen Entäußerungen von Nazis und Volk.

Neben den Zeichnungen wurden amorphe bunte Puppen in knalligen Farben in die Wohnräume platziert. Sie erinnern vage an ehemalige Bewohner*innen. Was fügen die Puppen der Intervention hinzu? Worum ging es Dir bei diesen skulpturalen Elementen?

Ich stand direkt daneben, als die Polizei die Kontrolle verlor und Neonazis und ganz ‚normale‘ deutsche Männer Hand in Hand auf Wasserwerfern und Räumpanzern herumgetrommelt haben und „Wir sind das Volk“ schrien. Da hat sich etwas Triebhaftes freigesetzt. Da wurde sichtbar, was wir sonst unter den Teppich der Zivilisation kehren wollen. Die Puppen sind für mich darum triebhafte Wesen, denen es an Kultur fehlt, die sich ihrem Trieb zum einen hingeben, aber scheinbar auch gar keine Möglichkeit haben, mit einem Kopf oder ähnlichem Einfluss auf sich selbst zu nehmen. Ich habe mich bei ihrem Entstehen primär selbst befragt: Also wann vollzieht sich dieser Moment, in dem der Trieb den Körper übernimmt und die eigene Vernunft beiseite drängt? Ich habe viel Zeit in dem leeren Haus verbracht und versucht, jeden Raum zu verstehen, um so eine passende skulpturale Antwort zu finden.

Sowohl das Wohnhaus als auch die Zeichnungen und Puppen verweisen auf Familiengeschichten und auf die damit einhergehenden mal alltäglichen und mal grausamen Verletzungen. Welche Bedeutung hat Familiengeschichte in dieser Arbeit für Dich?

Die Familie ist ein privater Raum, an dem sich die Individuen aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Ich denke jedoch: Das ist ein Trugschluss. Genauso wie es keine Kunst gibt, die nicht im gesellschaftlichen Kontext entsteht, wirken auch gesellschaftliche Realitäten in die Familie. Die Tapeten im Haus verbildlichen das hervorragend. Und gerade wenn wir die Nazi-Vergangenheit betrachten, beginnt die Auseinandersetzung damit ja oft auch in der Familie. Und dann geschehen eben jeden Tag kleine und größere Verletzungen im familiären Kontext. Solche Verletzungen thematisiere ich.

Zum einen geht es folglich um das Ernstnehmen der persönlichen Enttäuschungen, die nach der Wende entstanden sind, zum anderen um eine fundamentale Kritik am Kapitalismus, der Orte wie Belantis erst nötig macht. Glaubst Du, das sind die Gründe, warum es noch immer so viele Nazis im Osten gibt?

Ich versuche, die Nazi-Frage in Ostdeutschland nicht von der Wende her zu denken. Das kann eine Rolle gespielt haben, ich sehe aber vor allem auch eine defizitäre Aufarbeitung der Nazivergangenheit in der DDR als Ursache. Zudem fand 40 Jahre lang keinerlei Demokratie-Bildung statt. Ich würde mir wünschen, dass es nur um eine gescheiterte Spaßgesellschaft geht, aber da liegt noch mehr verborgen, da ist wirklich etwas Böses am Werkeln, in jedem Einzelnen von uns. Und so, wie wir uns in einem Kulturkampf mit Nazis gegenübersehen, müssen wir uns diesem Kampf auch in uns selbst stellen.
Und dann müssen wir uns unserem eignen Gesellschaftskonzept stellen. Ich denke, Spaß, Leistung und Angst tragen nicht auf Dauer – und das ist der Punkt. Wir müssen den Nazis Stop sagen: bis hier hin und nicht weiter und ab zurück. Das sollten wir so nebenbei machen mit einer klaren Haltung. Aber unser Hauptaugenmerk sollten wir der Aufklärung unserer Verhältnisse schenken: also dem (deutschen) Zusammenhang, aus dem so was wie Nazis hervorgehen können und der auch schon 1933 die Nazis möglich machte.