Karl Marx im Einkaufszentrum


Intervention vom 3.- 6.05.2018 im Einkaufszentrum „neue mitte“

Im Auftrag von JenaKultur im Rahmen des Symposiums:
„Von Gespenstern und geteilten Himmeln. Ideen einer gerechten Gesellschaft nach Marx“
in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Kunstsammlung Jena

Einführung von Verena Krieger

Marx im Einkaufszentrum

Zu Sebastian Jungs De-Platzierung einer umstrittenen Bronzebüste

Eine bronzene Büste des Philosophen und Gesellschaftstheoretikers Karl Marx steht vor der Fototapete einer Mittelmeerlandschaft, in der fensterlosen Kunstwelt einer Imbiss-Gaststätte inmitten eines mäßig attraktiven Einkaufszentrums. Was hat sie dort zu suchen? Ist das nicht eine Verhöhnung des Dargestellten wie des Bildhauers? Die temporäre Aufstellung der 1953 von Will Lammert (1892–1957) geschaffenen kolossalen Marx-Büste in La Dolce Vita ist eine Intervention des Jenaer Künstlers Sebastian Jung, ergänzt um eine kostenlos ausliegende Zeitung, die eine Serie von Zeichnungen und einen Text enthält. Seine Inszenierung verdient eine genauere Betrachtung.
Lammert hatte den Auftrag für die Büste im Jahr 1952 von staatlicher Seite erhalten. Sie wurde dreimal gegossen und der Humboldt-Universität in Berlin sowie den Universitäten in Jena und Leipzig geschenkt und anlässlich von Marx‘ 135. Geburtstag feierlich eingeweiht. Politischer Hintergrund war die II. SED-Parteikonferenz 1952, die den planmäßigen Aufbau des Sozialismus beschlossen hatte und in diesem Zuge die Hochschulen auf den Marxismus-Leninismus festlegen wollte. In Jena wurde die Marx-Büste zunächst im Vestibül vor der Aula, 1959 dann auf Druck der SED vor dem Nordportal des Hauptgebäudes aufgestellt. Durch den neuen Standort erfuhr sie einen Funktions- und Bedeutungswandel. Marx wurde so doppelt kodiert: Einerseits war er in die „Via triumphalis“ eingereiht, eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts sukzessive angelegte Reihe von Standbildern von Persönlichkeiten aus der Jenaer Universitätsgeschichte, und zum anderen war er nun gewissermaßen zum Patron der Universität erhoben, an dem vorbei musste, wer in das Hauptgebäude ging. Neben der Ehrung eines Wissenschaftlers, der einst an dieser Universität promoviert worden ist, diente die Büste nun als Instrument der Unterordnung der ganzen Universität unter eine nach seinem Ableben in seinem Namen konstruierte Staatsideologie.

Für Will Lammert muss der Auftrag attraktiv und ehrenvoll gewesen sein. Er hatte eine lange schwere Zeit durchlebt. 1933 musste er aufgrund seiner KPD-Mitgliedschaft vor der Gestapo ins Exil fliehen. Er ging zunächst mit seiner jüdischen Frau und den Kindern nach Paris, das er von einem früheren Studienaufenthalt her kannte. Doch bereits 1934 wurden sie aus Frankreich ausgewiesen und flohen in die Sowjetunion weiter, wo Lammert in Kontakt mit anderen deutschen Emigranten kam. In den folgenden Jahren schlug er sich mit gelegentlichen Aufträgen für Bauplastik durch, wobei er sich dem Primat des Sozialistischen Realismus unterwerfen musste. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion wurde er als Deutscher ins tatarische Kasan verbannt, wo er auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges jahrelang festgehalten wurde. Erst 1951 durfte er, aufgrund unterstützender Interventionen von Johannes R. Becher und Friedrich Wolf, in die DDR ausreisen. Nach rund 20 Jahren Exil und Zwangsarbeit wurde er nun zum Professor ernannt und in die Akademie der Künste aufgenommen.

Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten war Will Lammert ein durchaus anerkannter Bildhauer gewesen. Durch Max Liebermanns Fürsprache hatte er ein Stipendium in der Villa Massimo in Rom erhalten. Er führte eine eigene Keramik-Werkstatt und hatte sich auf Bauplastik spezialisiert, für die er eine Reihe von Aufträgen erhielt. Stilistisch zählte er eindeutig zu den Modernen, wobei er stets figurativ arbeitete. War sein Frühwerk noch vom Expressionismus beeinflusst, fand er in den 1920er Jahren im Zuge der allgemeinen Versachlichungstendenz zu monumentalen, kubischen Formen. Anfang der 1930er Jahre gingen dann die Aufträge zurück. Die Nationalsozialisten erklärten seine Kunst für „entartet“ und „jüdisch versippt“ und zerstörten fast alle seine Werke. Vor diesem Hintergrund war seine (sicher wesentlich durch seine Parteimitgliedschaft mit begründete) freundliche Aufnahme in der DDR eine späte Rehabilitation und verdiente Würdigung. Lammert, der auf ein in großen Teilen verlorenes Lebenswerk zurückblicken musste, erhielt in seinen letzten Jahren noch einige wichtige Aufträge. Hierzu zählt insbesondere das erst nach seinem Tod 1957 fertiggestellte Mahnmal für das ehemalige Konzentrationslager Ravensbrück. Seine Entwürfe sind (vermutlich weil sie Frauen darstellen) erstaunlich frei vom sozrealistischen Heroisierungszwang.

Die Marx-Büste zählt allerdings keineswegs zu Lammerts besten Werken. Zu offenkundig ist sie von den politischen Intentionen der Auftraggeber geprägt. Der monumentale Kopf zeigt Karl Marx aus der Untersicht und streng frontal, den leicht aufwärtsgerichteten Blick erhaben über die Betrachter gerichtet. Seine Züge sind idealisiert, die Haltung ist heroisiert. Die markante Augenpartie und der stilisierte Bart sind nicht etwa einem realistischen Zugriff geschuldet, sondern folgen einem in den realsozialistischen Ländern bereits etablierten Stereotyp. Vorgeführt wird nicht ein kritischer Denker, sondern eine autoritäre Figur. Die Kleidung ist zwar an Marx‘ fotografisch überliefertem Vorbild orientiert, jedoch ist der breite Kragen des Jacketts geschmälert und gestrafft, was der Figur eine Aktualisierung verleiht. Marx wird so zum zeitgenössischen Akteur, zum Repräsentanten der DDR-Politik transformiert. Die Büste diente also von Beginn an nicht primär der Würdigung des Philosophen und Kritikers der politischen Ökonomie, sondern hatte eine herrschaftslegitimierende Funktion.

1992 wurde die Marx-Büste abgebaut und ins Depot der Universitäts-Kunstsammlung gegeben. Nachdem sie zu DDR-Zeiten denen, die sich als „Sieger der Geschichte“ fühlten, eine militante Repräsentanz verliehen hatte, fiel sie nun den neuen „Siegern der Geschichte“ zum Opfer. Damit reiht sie sich in die Liste der seit der Wiedervereinigung vollzogenen Demontagen von DDR-Denkmälern ein. Auch die Marx-Büste aus dem Foyer der ehemaligen Karl Marx-Universität Leipzig wurde nach deren Rückbenennung 1991 in Universität Leipzig magaziniert. Die Marx-Büste aus der Humboldt-Universität war dagegen bereits 1983 auf den Strausberger Platz in Berlin-Friedrichshain transferiert worden, wo sie bis heute steht.

Freilich ist die Demontage der Jenaer Marx-Büste stets kontrovers diskutiert worden. Nach wie vor gibt es viele Stimmen, die das Denkmal schätzen oder eine Würdigung des Theoretikers für wünschenswert halten. Zuletzt hatte der Jenaer Stadtrat im Jahr 2017 mit Zweidrittel-Mehrheit beschlossen, eine Wiederaufstellung des Denkmals zu fordern – ein Wunsch, dem der Senat der Friedrich-Schiller-Universität allerdings nicht entsprach. Nun fügt Sebastian Jung der lang anhaltenden Kontroverse mit seiner künstlerischen Aktion einen weiteren Höhepunkt hinzu, indem er die Büste temporär aus dem Depot befreit und buchstäblich in die Mitte der Stadt Jena stellt.

Was bedeutet die Platzierung des bronzenen Karl Marx im La Dolce Vita? Sebastian Jungs „Kunstgriff“ bewirkt eine Kontextverschiebung: von einem institutionell getragenen politisch-kulturellen in einen trivialen ökonomisch-sozialen Rahmen. Diese Verschiebung wirkt verfremdend. Marx erscheint in doppelter Hinsicht deplatziert, denn weder erwartet man in einem billigen Imbisslokal ein Originalkunstwerk noch käme man auf die Idee, ein Denkmal für eine Geistesgröße ausgerechnet in einem Einkaufszentrum aufzustellen. Verfremdung ist ein wichtiges künstlerisches Mittel der Moderne, das darauf abzielt, gerade durch das Empfinden von Unstimmigkeit die Rezipienten emotional und intellektuell anzustoßen. Bertolt Brecht hat es im Zusammenhang des Epischen Theaters umfassend theoretisiert. Demnach zielt der Verfremdungseffekt darauf ab, durch ein Fremd-Machen des scheinbar Vertrauten die Rezipienten zu einer kritischen Wahrnehmung anzuregen und zu aktivieren. Sebastian Jungs Aufstellung von Lammerts Bronze-Plastik in der „Neuen Mitte“ macht etwas, das vielen Jenaern – sei es unter positiven oder negativen Vorzeichen – bislang altvertraut erschien, mit einem Schlage unvertraut. Man kann hierin durchaus einen Verfremdungseffekt erkennen. Denn die De-Platzierung der Marx-Büste in Einkaufszentrum und Imbissbude ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Vielmehr wirft sie wichtige Fragen auf.

Einkaufszentrum und Imbissbude sind sozioökonomisch relevante Orte, sie repräsentieren aber auch die kulturelle Dimension des kapitalistischen Warenumschlags. So wie Walter Benjamin die Pariser Einkaufspassage des 19. Jahrhunderts als Allegorie des aufblühenden Industriekapitalismus interpretierte, lässt sich auch das heutige Einkaufszentrum als kulturellen Ausdruck zeitgenössischer kapitalistischer Ökonomie lesen. Statt Luxuswaren in einem gehobenen Ambiente, bietet es eine triste Atmosphäre. Systematisch werden Wünsche und Idealvorstellungen mobilisiert, die durch Warenkonsum zu befriedigen unmöglich ist – aus dieser Spannung resultiert die bei allem Glitter und Glamour stets präsente Trostlosigkeit. Der nach außen abgeschlossene Konsumtempel ist kein öffentlicher Ort. Jeder Quadratzentimeter ist Eigentum von Investoren und die einzige Funktion des Aufenthalts darin ist eine ökonomische. Wer ein Einkaufszentrum betritt, hört auf Bürger und Individuum zu sein und ist nur noch Konsument. Alle Rahmenbedingungen des Aufenthaltes definieren diesen Status; wer diese Funktion etwa mangels finanzieller Ressourcen nicht zu erfüllen vermag, hat hier keine Existenzberechtigung. Die Aufstellung der Marx-Büste an diesem Ort erinnert daran, dass es möglich ist, aus der bewusstlosen Teilhabe an dieser Struktur reflexiv herauszutreten.

Nicht nur eröffnet die Marx-Büste einen neuen Blick auf das Umfeld, sondern der neue Kontext löst auch einen neuen Blick auf die Marx-Büste aus: Das La Dolce Vita-Ambiente ist selbst ästhetisch gestaltet. Hier gibt es Bilder (Fototapeten und einen gemalten Himmel) und sogar eine Skulptur (barocker Putto). Natürlich handelt es sich nicht um Kunstwerke, sondern um billige Massenprodukte. Kann sich Will Lammerts Büste dagegen als Kunstwerk behaupten, sprich: Wird sichtbar, dass sie von einem geschulten Künstler geschaffen wurde und mit dem Status „Kunst“ ausgestattet ist? Oder wird sie umgekehrt durch das trivialästhetische Umfeld selbst trivial? Die Unsicherheit darüber, was mit einem Denkmal oder Kunstwerk geschieht, wenn es aus seinem nobilitierenden Kontext (Museum, Sockel etc.) in einen weniger noblen Kontext verschoben wird, ist produktiv. Kunst ist, was in einem institutionellen Kunstkontext als solche akzeptiert und präsentiert wird. Die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Kriterien und Normen unterliegen stetigem historischem Wandel und differierenden ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen. Wird ein Werk aus dem institutionellen Kunstkontext herausgenommen, muss es neu und anders angeschaut werden. Es bedarf eines geschulten Blicks, um Materialität, Eigenhändigkeit, stilistische Eigenart wahrzunehmen. In diesem Sinne ist Jungs Verschiebung von Lammerts Büste ein Experiment: Aus der Grauzone zwischen Wertschätzung und kritischer Abwertung in einen „fragwürdigen“ Kontext verschoben, erlangt das Denkmal eine neue Uneindeutigkeit: Ist es wirklich nur billige Propaganda in einem billigen Ambiente oder erweist sich im Kontrast zu diesem seine künstlerische Qualität? Zweifellos wird diese Frage unterschiedlich beantwortet werden – es ist ein Experiment mit offenem Ausgang.

Mit seiner frechen Geste hat Sebastian Jung die Marx-Büste also zielsicher in doppelter Hinsicht aktualisiert und aktuellen Fragen ausgesetzt. Hinzu kommen weitere Elemente seiner Arbeit: eine Serie von Zeichnungen und ein Text, publiziert in einer eigenen Zeitung, die zur freien Mitnahme ausliegt. Text und Zeichnungen entstanden bei einem mehrstündigen Aufenthalt des Künstlers in dem Etablissement, bei dem er die Menschen, die sich dort befanden, beobachtete und porträtierte. Das hat bei ihm bereits Tradition: Sebastian Jung hat eine eigentümliche Faszination für Einkaufszentren, Supermärkte, Imbissbuden, Erotikmessen und ähnliche „Unorte“ des öffentlichen Lebens, die einerseits von vielen Menschen aufgesucht werden, andererseits abseits des „eigentlichen Lebens“ zu liegen scheinen. Immer wieder sucht er sie auf und hält die Individuen und Szenen, die ihm dort begegnen, zeichnerisch fest. Mit seinem unverwechselbaren Stil fängt er markante Gesten, Blicke und Konstellationen ein, die für ihn etwas Elementares ausdrücken. Dabei setzt er immer wieder neu an, wählt wechselnde Ausschnitte und zoomt sich gewissermaßen näher heran, um durch das häufige Wiederholen und Variieren seine Objekte noch präziser zu erfassen. Die Linienführung ist knapp, aufs Äußerste reduziert und erlangt ihre besondere Dynamik und Ausdruckskraft gerade durch ihren unregelmäßigen Verlauf und die bizarren Konturen. In seinen Zeichnungen fängt Sebastian Jung persönliche Eigenheiten und Empfindungen ein und thematisiert zugleich das entfremdete Dasein des zeitgenössischen Menschen. Der ästhetische Reiz, den man seinen Blättern abgewinnen kann, ist daher stets mit Unbehagen gekoppelt.

Sebastian Jung will die von ihm Porträtierten nicht desavouieren. Ganz im Gegenteil ist seinen mitunter ans Karikaturhafte grenzenden Momentaufnahmen eine tiefe Empathie abzuspüren. Das wird auch aus seinem Text deutlich, einer Introspektion des im La Dolce Vita sitzenden Künstlers. Zwischen Offenheit, Selbstironie und Fantastik changierend, reflektiert er, weshalb er sich an diesem Ort befindet, welche Gefühle dieser bei ihm auslöst und wie er sich und andere wahrnimmt. Vielleicht unterscheidet er sich gar nicht so sehr von den anderen Menschen hier, die mit einer Ein-Euro-Plastikblume ein bisschen Glück zu erwerben hoffen? Und die Chicken-Nuggets schmecken richtig gut. Karl und Jenny Marx treten hinzu, als lebendige, aber doch alt und unwirklich gewordene Gestalten. Haben sie etwas zu dieser Einkaufs-Welt zu sagen oder sind auch sie ihr heillos verfallen? Gibt es überhaupt eine Position, von der aus sich urteilen lässt?

Immer wieder bringt Sebastian Jung in seinen Arbeiten die eigene Subjektivität ein, um in ihnen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu spiegeln. Sein Blick auf soziale und politische Strukturen ist nicht der distanzierte Blick des von oben herabblickenden Erkenntnissubjekts, sondern er ist stets selbst Teil des Beobachteten. Statt sich arrogant nach unten abzugrenzen, versucht er gewissermaßen „von innen her“ die Bedürftigkeiten, Sehnsüchte und Ängste zu beschreiben, von denen Menschen an solchen Orten getrieben sind oder sein mögen. Wenn er in seinem Werk die Erfahrung von Entfremdung (eine Marx‘sche Kategorie) mit den Mitteln ästhetischer Verfremdung thematisiert, will er nicht das Falsche der Kulturindustrie entlarven, und schon gar nicht die darin agierenden Individuen denunzieren. Vielmehr stellt er sich auf ihre Seite, fühlt wie sie, hält zu ihnen – und so erweist es sich als sein Ziel, das Wahre im Falschen zu ergründen.

Prof. Dr. Verena Krieger ist ehemalige Grünen-Politikerin und Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Jena. Sie erforscht u.a. künstlerische Formen gesellschafts- und geschichtspolitischen Engagements.
Zuletzt kuratierte sie den Wettbewerb für ein Denkmal für den jüdischen Rechtswissen-schaftler Eduard Rosenthal.