in Zusammenarbeit mit

THINK-TANK

Die Autor*innen wurden von dem Künstler Sebastian Jung eingeladen, zu spezifischen Fragen einen Beitrag zu verfassen. In der gewählten Anordnung werden diese heterogenen Positionen miteinander kontrastiert. Manche Texte bewegen sich in konkreten Feldern, andere im Bereich des Abstrakten, und eröffnen so gemeinsam ein Spektrum an Möglichkeiten des Denkens und Handelns. Alle Texte wurden in Originalsprache abgedruckt.

Bildnachweise:
Michael Arzt – HALLE 14 | Walther le Kon, 2016
Nhi Le – Martin Neuhof
Jörg Sundermeier – Nane Diehl
Sylka Scholz -Maria Conradi (Berlin)
Christoph Tannert – Pam Spitz 2017
Matthias Quent – Sio Motion

Matthias Quent

Rechts außen in Ostdeutschland

Der Osten liegt nicht nur beim Blick auf die Karte rechts außen: Die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Herbst 2019 zeigen, dass der dort dominante völkisch-nationalistische Flügel der AfD seine Machtbasis ausbaut. Die Wahlen verändern die politische Landschaft grundlegend – die Folgen des Erstarkens der radikalen Rechten werden Stück für Stück spürbar. Zunächst für Migrant*innen und andere Minderheiten und dann für jene, die den Rechten als politische Feind*innen gelten. Schleichend erreicht die Normalisierung von autoritärer, chauvinistischer und rassistischer Politik eine neue Qualität.

Gewählt wird die AfD aus unterschiedlichen Gründen: Im Osten sind sozialpopulistische bis nationalsozialistische Stimmen laut, die den Deutschstämmigen höhere Renten und bessere soziale Absicherung versprechen. In der West-AfD ist unterdessen der markt-radikale Wohlstandschauvinismus dominant. Auch wenn die Ursachen verschiedene sind, kann man sich auf gemeinsame Feindbilder einigen. Trotz der inneren Zerrissenheit gelingt es der AfD und ihrem publizistischen Vorfeld, mit reaktionären Themensetzungen (gegen Migration und Kosmopolitismus, gegen Gendergerechtigkeit und politische Korrektheit, gegen nachhaltige Klimapolitik usw.) soziale Unterschiede und wirtschaftliche Interessenskonflikte beiseite zu wischen: beispielsweise zwischen Ostdeutschen, die sich als benachteiligt wahrnehmen und es zum Teil auch sind, und den oft in mehrfacher Hinsicht privilegierten (oder als solche wahrgenommenen) Westdeutschen. Das Rechtsaußen-Milieu in Ost und West und darüber hinaus eint dabei nicht etwa der Protest gegen wirtschaftliche Abstiegsängste, sondern der Protest gegen den Verlust von Privilegien männlicher, weißer und kultureller Vorherrschaft. Dieser Schulterschluss ermöglicht auch Bündnisse zwischen jenen, deren materielle Interessen sich bei genauer Betrachtung antagonistisch gegenüberstehen – und die damit letztlich gegen ihre eigenen materiellen Interessen wählen.

Vielerorts stellen sich engagierte Menschen und Initiativen dem Rechtsruck entgegen: Dafür werden sie angegriffen und eingeschüchtert. Statt den Osten verloren zu geben, müssen diese Akteur*innen unterstützt
werden, z.B. durch staatlichen Schutz, indem ihr Engagement sichtbar gemacht wird und durch finanzielle Unterstützung.

Nhi Le

Immer wieder
das Gleiche

Die Türen zum Westeingang des Hauptbahnhofs sind eng. Ich möchte schnell durch, um noch meinen Zug zu schaffen. Zwei sperrige Männer kommen durch die Gegenseite. Sie schubsen mich. Rufen: „Verpiss dich, Fidschi!“

Die rassistische Beleidigung „Fidschi“ ist spezifisch ostdeutsch. In Thüringen aufgewachsen, in Sachsen lebend, kenne ich den Begriff ein Leben lang. Mit Aufkommen des Leipziger Pegida-Ablegers im Jahr 2015 hat sich die Stimmung verschärft: Der anfängliche Alltagsrassismus entwickelte sich zu offener Feind-seligkeit, Sticheleien und Othering wurden zu blankem Rassismus und Gewaltbereitschaft. Für all jene, die anders als Asiat*innen nicht als „zumindest fleißige Ausländer“ wahrgenommen wurden, war dies längst Realität.

Es lässt sich erahnen, wie es außerhalb des zur Insel romantisierten Leipzigs aussieht. Seit 2015 hat es in Sachsen 1277 Angriffe auf Geflüchtete gegeben.¹ 2017 fesseln Männer einen jungen Iraker mit Kabelbinder an einen Baum, im Sommer 2018 betreiben Chemnitzer Neonazis Hetzjagden auf (vermeintliche) Migrant*innen. Die Liste könnte endlos weiter-gehen. Trotz stetiger Vorfälle scheinen viele die sächsischen Verhältnisse nur noch am Rande wahrzunehmen.

Im Sommer 2019 rede ich plötzlich sehr viel über Rassismus, den Osten, Rechtsradikale. Vor den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen will man es auf Bühnen und in Interviews ganz genau wissen. Auch wenn ich mich freue, dass die wenig beachtete Realität endlich Sichtbarkeit bekommt, beschleicht mich das Gefühl, dass dies nur über einen bestimmten Zeitraum passieren wird. Zusätzlich irritiert es, wenn mit Fassungslosigkeit und betroffenen Seufzern auf die Berichte reagiert wird. Was dachte man denn sonst? Wir brauchen hier aber kein Mitleid, sondern Solidarität. Ich plädiere deshalb, sich die Situation auch unabhängig von Wahlen anzuschauen, Initiativen, besonders im ländlichen Raum, zu unterstützen und konkret auch die Steigbügelhalter-Rolle der sächsischen CDU wahrzunehmen.

Der Rassismus wird in Sachsen wie auch anderswo immer stärker werden. Er war ja schließlich nie weg. Viele sind ihm im Laufe seines Erstarkens einfach nur achselzuckend oder mit der Begründung des Einzelfalls
begegnet. Dies gilt es zu ändern.

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1 Via Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle

Axel Salheiser

Ostdeutsche
Identität

Wenn es eine ostdeutsche Identität gibt, fußt sie auf kollektiv geteilten Erfahrungen des Lebens in der DDR, des Systemumbruchs 1989/90, der deutschen Wiedervereinigung und der gesellschaftlichen Transformation in den letzten drei Jahrzehnten. Die Wiedervereinigung hat einen nationalen Bezugsrahmen vorgegeben, in dem sich Ostdeutsche als Deutsche sehen, die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse und Anerkennung einfordern, Benachteiligung und Missachtung beklagen. Die sozioökonomischen und demografischen Verwerfungen in Ostdeutschland sowie das Gefühl, vom Westen „fremdbestimmt“ zu werden, haben eine spezifische Selbstwahrnehmung als Ostdeutsche genährt. Viele fühlen sich bis heute nicht nur benachteiligt und marginalisiert, sondern von Westdeutschen regelrecht als „Bürger*innen zweiter Klasse“ behandelt. Der Ost-West-Vergleich, der Diskurs über „die“ Ostdeutschen ermöglicht kaum Differenzierung, blendet regionale Besonderheiten aus und übertönt die Stimmen kultureller, ethnischer und migrantischer Minderheiten. Auch ein trotzig-nostalgischer Stolz auf die (vermeintlichen) Errungenschaften der DDR-Sozialordnung ist Teil dieses „Ostdeutschseins“, wobei jene Erinnerungen bisweilen kaum von Geschichtsvergessenheit zu trennen sind und die Diktatur im Rückblick seltsam aufgehellt erscheint. Die Ansprüche nicht weniger Ostdeutscher an die Politik im heutigen Deutschland beziehen sich auf das Schließen von Gerechtigkeitslücken, die Gewährleistung von Sicherheit, die Einhaltung der Versprechungen einer sozialen Marktwirtschaft, wie sie vor drei Jahrzehnten von den Rednerpulten tönten. Politikwissenschaftler*innen sehen hierin eine hohe Output-Orientierung gegenüber der Demokratie, die auf den genannten Themenfeldern „zum Erfolg verdammt“ und damit tendenziell destabilisiert ist. Die Verankerung eines demokratischen Bewusstseins, das „selbstgenügsamer“ und in erster Linie universellen Werten verpflichtet ist, gilt hingegen in Ostdeutschland als stark ausbaufähig – vor allem, weil autoritäre, antidemokratische und rassistische Stimmen seit Jahren lauter werden. Anstatt jedoch verächtlich auf „die“ Ostdeutschen herabzuschauen, sollten vor allem jene unterstützt werden, die demokratische Strukturen in Zivilgesellschaft und Politik vor Ort aufgebaut haben und verteidigen.

Michael Arzt

REQUIEM FOR
A FAILED STATE

1989/90 implodierte die Deutsche Demokratische Republik. Die reformunfähige »Diktatur der Arbeiterklasse« hatte abgewirtschaftet. Die Menschen reklamierten die Macht des Volkes für sich. Der Staatsapparat wurde abgewickelt, die beiden deutschen Staaten vereinigt und die überkommenen »volkseigenen Betriebe« als Konkursmasse vor allem an westdeutsche Investoren veräußert. Langersehnte Freiheiten und die Hoffnung auf Wohlstand und eine blockfreie, friedliche Welt
wurden greifbar – und für viele Realität. Aber es folgte auch eine Deindustrialisierung in einem bis dato unbekannten Tempo und damit eine kapitale Wirtschaftskrise. Die Folgen waren Massenarbeitslosigkeit, Migration, Leerstand und Verwahrlosung. Rückblickend erscheinen die 1990er Jahre heute als anarchistischer »wilder Osten«, geprägt von kulturellem Eskapismus, wirtschaftlichen Abenteuern und eskalierender Fremdenfeindlichkeit. Die neue Freiheit zwang die Ostdeutschen zur Neuorientierung, bedeutete Risiko und verursachte biografische und psychologische Krisen. »Metaphysisch obdachlos« geworden, sehnten sich nicht wenige nach erlösenden Selbst- und Weltbildern.

Mit den Jubiläen vervielfacht sich die Anzahl der Fach- und Erinnerungsbücher und populärwissenschaftlichen Darstellungen. Über das begrenzte Material historischer Aufnahmen legt eine mediale Patina, die mitunter den Blick auf Lücken und Brüche verschleiert. Zwischen der Betrachtung der DDR als Unrechtsstaat und kitschiger Ostalgie fehlen im populären Diskurs nicht selten die Nuancen.

Gleichermaßen herrscht zwischen der Generation, die sich in der DDR eingerichtet hatte, und ihren Kindern – mit Bezug auf Hermann Lübbe polemisch gesprochen – ein auffälliges »kommunikatives Beschweigen«. Mit den westdeutschen 1968ern vergleichbar laute Auseinandersetzungen zwischen diesen Generationen sind bisher ausgeblieben. Dabei geben allein der Weg der Wendekinder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe in den sogenannten »Nationalsozialistischen Untergrund« und die hässliche Nichte der Montagsdemonstrationen, die Abendspaziergänge von Pegida, genügend Anlässe, nach der Gegenwart und den Folgen deutscher Diktaturerfahrungen zu fragen.

Wie schauen die ab 1980 Geborenen auf diese Dekade der Transformation, an die sie keine oder nur wenig individuelle Erinnerungen haben? Die Ausstellung „Requiem for a Failed State“ widmete sich 2018 in 19 Positionen von jungen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart des verschwundenen Staates DDR. Fiktive Straßenschilder erinnerten an die heute nahezu unbekannten Todesopfer rassistischer Gewalttäter zu DDR-Zeiten: Raúl Andrés Garcia Paret (1958-1979), Delfin Guerra (1960-1979), Joao Manuel Antonio Diogo (1963-1986), Carlos Conceicao (1969-1987).

Janine Dieckmann

„So isser, der Ossi“
Vielfältig!

Auch ich gehöre zur Generation der „Wendekinder“; zu dem Teil, der sich für eine demokratische, vielfältige Gesellschaft einsetzt, der heute – 30 Jahre nach der Wende – auf die Wahlergebnisse schaut und versucht zu ergründen, wie sie zustande kommen, was sie mit einer „Ostidentität“ zu tun haben. Ein anderer Teil der Wendekinder schaut auf frühere DDR-Generationen oder diejenigen, die behaupten, diese zu repräsentieren, übernimmt deren Frustration nach der „Wende“, packt die eigene Unzufriedenheit mit Politik und Diskriminierungswahrnehmung als „Ossi“ oben drauf und vertritt – zunehmend offen – rassistische und rechtsradikale Einstellungen. Ein Blick allein in diese Generation zeigt: Es gibt nicht den Prototyp „Ossi“, „die Ostdeutschen“ als homogene Gruppe. Aber die Kategorien „Ossi“ und „Wessi“, die Wahrnehmung von Diskriminierung als Ostdeutsche, die gibt es. Aber was ist diese „ostdeutsche Identität“? Aus sozialpsychologischer Perspektive ist hierfür ein Blick auf soziale Kategorisierungs- und Identifikationsprozesse hilfreich: Wir teilen andere Menschen und uns selbst in Kategorien. Soziale Kategorisierung hilft uns, Informationen über andere effizient zu verarbeiten, zielorientiert zu handeln und uns selbst und andere in der sozialen Umwelt zu verorten. Gleichzeitig identifizieren wir uns mit diesen Kategorien. Sie sind – mehr oder weniger – bedeutsam für unsere Identität. Das Ausmaß unserer Identifikation mit sozialen Kategorien, denen wir uns zugehörig fühlen oder die wir zugeschrieben bekommen, hat immensen Einfluss auf unsere Einstellungen, Emotionen und Handlungen. So auch – je nach Identifikationsgrad – die (Selbst-)Zuschreibung als „ostdeutsch“. Während für die einen die eigene DDR-Biografie keinerlei Bedeutung hat, spielt sie für andere eine große Rolle. Doch wie sich diese Ostidentität im Zusammenspiel mit individuellen Erfahrungen auf gesellschaftlicher Ebene auswirkt, bleibt bisher unerforscht. Die unzureichende wissenschaftliche und damit gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte und der Nachwendezeit, mit DDR-Biografien und -erfahrungen, führt dazu, dass in unserer Gesellschaft ein homogenes Bild voller Vorurteile über „Ossis“ kursiert. Die aktuellen Wahlergebnisse sind ein Symptom dieser
fehlenden Auseinandersetzung. Es ist notwendig, DDR- und Nachwendeerfahrungen in ihrer Vielfalt zu untersuchen und aufzuzeigen: Es gibt keinen Prototyp für den „Ossi“, aber es gibt Menschen, die unterschiedlich lang in der DDR gelebt haben, mit unterschiedlichen Religionen, unterschiedlichen Migrationsgeschichten, Geschlechtsidentitäten, sexuellen Orientierungen, Weltanschauungen sowie körperlichen und kognitiven Voraussetzungen. Dies alles prägt soziale Identitäten von Menschen. Durch die Anerkennung dieser vielfältigen Lebenswelten von Ostdeutschen kann sich nicht nur das gesellschaftliche Bild über Menschen mit DDR-Erfahrung ändern. Gleichzeitig werden Perspektiven von Menschen, deren Erfahrungen auch in der DDR unsichtbar gemacht wurden, nicht noch weiter marginalisiert. Letztendlich würden auch die homogenisierenden Kategorien „Ossi“ und „Wessi“ durch das Sichtbarwerden dieser Vielfalt an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren.

Christoph Tannert

Kunst ist Demut

Die Rolle der Kunst wird mehr und mehr in einen Katastrophenmodus gepresst.

Viele fühlen sich ohnmächtig in diesen Zeiten. Sie wollen die Humanität retten und hoffen auf die psychologischen Effekte von Sprache, Kunst, Theater und Musik, um die Welt mit Tugendtaten und wohlfahrtsausschuss-konformem Handeln besser zu machen.

Unserer schlimmen Gegenwart soll, so die Hoffnung, mit noch schlimmeren Kunst-aktionen begegnet werden. Die drastischen Inszenierungen der Erben von Dada bis Gaga – von Pussy Riot, Wojna, Pjotr Pawlenski, Ai Weiwei bis zur Künstlergruppe Frankfurter Hauptschule und dem Zentrum für politische Schönheit – propagieren einen Humanismus mit der Keule, mal mit Punk-Attitüde, mal ungelenk, mal schockierend, mal als inszenierter Fake. Die Erfolge dieser Verunsicherungsmaßnahmen sind beachtlich. Mit neuer Kunst haben sie nichts zu tun. Damit wird lediglich der alte Kanon zertrümmert. Diese Aktionen sind noch nicht einmal moralisch gerechtfertigt. Sie sind lediglich Aufmerksamkeitszeichen ihrer geltungssüchtigen Protagonist*innen.

Unter Stalin hatten Künstler*innen „Ingenieure der Seele“ zu sein und die Massen mithilfe der Literatur des „sozialistischen Realismus“ auf Parteilinie zu bringen, um ab den 1930er Jahren die utopischen Projekte des Kremlherrschers voranzutreiben. Dichter*innen Arm in Arm mit den Ingenieur*innen.

Im Sozialismus gab es die Künstlerverbände, Einstufungskommissionen und Zensurbehörden, die normierten und überprüften, was in Form und Inhalt zur Verschönerung des Diesseits noch als konform gelten konnte oder zu verbieten sei. Heraus kam eine Propagandakunst und viele verschreckte Nischenproduzenten, die sich ihre Wahrheit nicht nehmen lassen wollten.

Heute wird auf moralisch korrekte Gesinnung geachtet, hat sich Sprache unter dem Druck von Politik und Moral zu wandeln. Künstler*innen und Kunstszene überwachen einander in stetig zunehmender Gereiztheit bei der Einhaltung der Sittsamkeitsregeln der „Political Correctness“. Die totalitären Vereinnahmungsversuche und großen Worte über die Aufgaben des Künstlers nach dem jeweiligen tagespolitischen Verständnis nehmen zu. Der wahren Rolle der Kunst, Zeichen zu setzen sowie die Weisheit des Daseins und die Demut vor ihren Geheimnissen zu ergründen, verhilft das nicht zum Durchbruch.

Jörg Sundermeier

Undeutsch

Plötzlich waren sie weg. Es war in Nordrhein-Westfalen, im Großraum Ostwestfalen, Anfang der Neunzigerjahre. Ich, ein knapp zwanzigjähriger Dorfbewohner, traute mich gerade, ein bisschen mit der Antifa Kontakt aufzunehmen, denn mir waren sie immer übler aufgefallen: die Nazis. In meinem Dorf fand ich dutzende Aufkleber mit dem „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“-Spruch an Straßenschildern, und es war nicht sicher, ob hier wer trotz oder wegen des Holocausts seinen Stolz ausstellte. Nazis machten Fußballspiele zum Austragungsort ihrer Hahnenkämpfe. Sie sprühten Hakenkreuze. Die Nähe zum Teutoburger Wald lockte sie an, das Hermannsdenkmal, die Externsteine, die sie gegen alle Belege zu einer germanischen Kultstätte erklärten, und selbstverständlich die Wewelsburg, die die SS zur „Ordensburg“ umbauen wollte und in dessen Nordturm Himmler den Mittelpunkt der Welt erblickt habe. Da waren sie also, die Nazis, eröffneten Schulungsstätten, verzogen ihre Kinder, attackierten alle, die sie für „undeutsch“ hielten.

Die kleine Antifa vor Ort hielt dagegen. Und ich wollte das auch, und näherte mich den Antifas vorsichtig an, hatte auch Angst vor ihnen, da immer behauptet wurde, dass es „Chaoten“ von links und rechts gebe, die beide gleichermaßen die bürgerliche Welt zerstören wollten – wenn etwa Rechte einen Linken verprügelten. So stand ich erschrocken und verunsichert daneben und war den Antifaschistinnen und Antifaschisten heimlich doch zugeneigt.

Und dann waren die Nazis plötzlich weg. In ihren Schulungsheimen blieben, wenn überhaupt, die Alten zurück, doch die jüngeren Kader, die Hundertprozentigen, waren verschwunden, nicht mehr in den Heimen, in den Stadien, auf den Volksfesten. Selbst die Anzahl der Aufkleber nahm ab. Kurz glaubte ich an einen Sieg. Ich irrte gewaltig: Die Kader waren in den Osten gezogen, in die fünf neuen Bundesländer, um dort ihre Propaganda zu verbreiten, ihre Heime zu eröffnen, die Stadien zu besetzen. Das allerdings merkte ich erst später, als alle darüber sprachen, wie braun die Ossis waren. Da sah ich ihre „Führer“, Westdeutsche, einige von ihnen hatten eben noch Ostwestfalen häss-licher gemacht. Es waren nie „die Anderen“, es war nie nur ein Problem der Ex-DDR. Die Nazis haben recht, sie gehören zu Deutschland. Und sie müssen im ganzen Land bekämpft werden.

Osaren Igbinoba

Refugees in East Germany

I came to Germany as a political activist in exile in 1994, I had been active as a human rights and pro-democracy activist in Nigeria, which then came under a hard military dictatorship.

Together with other Nigerians I founded The VOICE Africa Forum in Mühlhausen as an organisation for Nigerian exile politics. In spite of our success, our engagement did not protect us. We were not able dedicate ourselves to the struggle for democratic changes in our country, but soon had to face the reality of the threat of being deported. I am the only founding member of the VOICE Africa Forum that was not deported, or left the country otherwise.  It was still a four-year continuous fight until I finally escaped the threat of deportation and was accepted as a political refugee according to Art 16 (GG) without condition.

The life of refugees, in my early period, was dominated by a fear of deportation, which was enforced by isolation and social exclusion.

Refugees then were often housed in former military barracks, geographically isolated and excluded from social life and general society, under permanent control of the security staff with often right-wing background. Be it Tambach-Dietharz, Mühlhausen, Saalfeld, Jena-Forst, Gehlberg, Katzhütte in Thüringen or Möhlau in Sachsen-Anhalt – in general the conditions for refugees were usually the same: Isolation, exclusion, fear of deportation, lack of medical supply and treatment, and various health problems. The insecurity – in regards to the individual asylum case (sometimes for many years without any progress) and lacking the possibility to work, to attend language courses or travel – often lead to depression.

Another problem refugees had to face – especially Africans and in Eastern Germany – was the threat of abuses and attacks by right-wing extremists and the lack of political support by German society, the authorities and police. Brutality by police officers and reverse accusation through “Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ (eng. “resistance against a police officer”) was unfortunately amongst the experiences we refugees sometimes had to face.

However, my own example shows that to be a refugee in Thüringen also can mean mutual solidarity, a common struggle for our rights, for better living conditions, against deportation, residential obligation and colonial injustice.

It was the attention that The VOICE raised with the struggle against unbearable living conditions in the camp in Mühlhausen in its early years that put us into the respected situation to be asked by the authorities in which camp we would like to live.

It was the solidarity and determination of my fellow refugees who gathered around me when police came to pick me up, which protected me from deportation.  

It was the solidarity, power and perseverance of the organised refugee protest that finally lead to the closure of the refugee camps in Saalfeld, Tambach-Dietharz, Jena-Forst, Gehlberg, Katzhütte and others.

Also, the so-called “Residenzpflicht” (eng. “residential obligation”) that restricted the movement of asylum-seekers to their district area and impeded people to visit their friends and relatives, contributed to their isolation.
In the preparatory process for the Caravan Refugee Congress, “Unite against deportation” in Jena, we realised how obstructive this law actually was, also for the political engagement of refugees.  With the campaign against “Residenzpflicht”, we started one of the strongest, most persistent and most successful campaigns of German refugee struggle, which finally lead to its abolition.

If we look at the changes that have taken place since, they are mainly connected to changes in German and European law and new developments in international migration.

Superficially seen, the situation has improved: Camps were closed, refugees live closer to the city centres, residential obligation was abolished, refugees have work, attend language courses, schools, vocational trainings or study.  The integration process, in consequence of the 2015 Refugees-Welcome-Culture, partially seems to be successful.

But at the same time, a strategy of divide and rule is being applied: Refugees are divided into good and bad ones – those who are “well integrated” and those “who don‘t want to accept our culture”. 

And, the fear of deportation at the moment is still an acute threat to many  – even in countries like Afghanistan with a complete lack of safety. Many are under the threat of the so-called Dublin-deportation rule – they must go back to Italy or Spain, to where they arrived in Europe, but where they have no social structure or care. Massive legal and social sanctions will be applied to effect their cooperation or force their deportation. The horror of deportation threat can lead to a sort of paralysation and self-isolation from social contact and political engagement.

Also, biographical traumata has an impact on the situation of refugees: They fled from war and destruction in their home countries, survived the desert and the Mediterranean Sea, but this under life-threatening conditions, having experienced hundreds of deaths on their way, losing friends and family members. To overcome these traumata actually requires absolute security, but instead they are confronted with a continuation of fear by the never-ending threat of deportation.

Sylka Scholz

Wem nützt die Rede
vom ‚braunen Osten‘?

In drei der ostdeutschen Bundesländer stehen in diesem Herbst Landtagswahlen an. Ich sehe bereits die Schlagzeilen in den Medien vor mir: Garantiert wird wieder die ‚braune Gefahr‘ beschworen, die aus dem Osten der bundesdeutschen Demokratie droht. Mich regen diese medialen Präsentationen schon jetzt auf! Wie geht es Euch damit? Fühlt Ihr Euch angesprochen? Oder hat dieses ganze Ost-West-Gerede mit Euch gar nichts mehr zu tun?

Immerhin laut einer Studie der Otto Brenner Stiftung über die erste Nachwendegeneration kennen die 19-29-jährigen Befragten die wechselseitigen Klischees aus der Nachwendezeit noch gut: Den Jammerossis stehen die arroganten Wessis gegenüber. Viel wichtiger ist aber, dass die in Ostdeutschland geborenen Befragten sich als Ostdeutsche verstehen und die in Westdeutschland geborenen Menschen als Deutsche. Dieses Ostdeutschsein hat nicht mehr viel mit der DDR zu tun, sondern mit den Erfahrungen ab den 1990er Jahren. Arbeitslosigkeit wurde in den Familien zu einer Massenerfahrung und die Erwerbschancen sind im Osten bis heute vergleichsweise schlechter als im Westen. So entsteht das Gefühl einer kollektiven Betroffenheit, aber auch eine starke Identifikation mit Ostdeutschland.

Nicht nur die wirtschaftliche Situation unterscheidet sich zwischen Ost und West, sondern auch die Bewertung der Umsetzung der Demokratie. Die Ostdeutschen sind mit der gelebten Demokratie unzufriedener als die Westdeutschen. Und dazu dürften wohl auch die Erfahrungen der politischen Vereinigung beigetragen haben: Die westdeutschen Institutionen wurden einfach auf den Osten übertragen, ohne zu prüfen, was eigentlich in der DDR gut funktionierte. Parallel und eher im Hintergrund haben sich auch rechte Parteien etablieren können, ein Thema, das in den Medien nicht gern angesprochen wird. Stattdessen werden rechtsextreme Gewalttaten und Rechtspopulismus vereinfachend mit der DDR-Sozialisation erklärt, ohne dass wirklich eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Leben in der DDR und mit der Geschichte der Wiedervereinigung erfolgt.

Die mediale Rede vom ‚braunen Osten‘ verdeckt, dass Rechtsextremismus und Rassismus kein ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches Problem sind. Und sie macht unsichtbar, dass es in Ostdeutschland viele zivilgesellschaftliche Initiativen gibt, die sich gegen Rassismus wehren und/oder sich für ganz konkrete Sachen einsetzen: für Umweltschutz, für die Wiederbelebung des Tourismus in Thüringen, für neue gemeinschaftliche Lebensformen und vieles mehr. Der Osten ist vielfältiger und bunter, als die medialen Diskurse es darstellen, und er ist in Aufruhr. Nutzen wir diese Aufregung, um gemeinsam über die Zukunft der Demokratie zu diskutieren und sie durch eigene Beteiligung zu verbessern.